Ausgabe 1>2014 - page 21

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Esslinger Gesundheitsmagazin 21
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„Der Mensch ist das klügste aller Wesen, weil er Hände hat.“
Dem griechischen Philosophen Anaxagoras (499-428 v.Chr.)
wird dieser Satz zugeschrieben und egal, ob die Herkunft nun
stimmt, in dem Satz selbst steckt reichlich Wahrheit. Denn die
Hand ist in ihren vielfältigen Funktionen unschlagbar. Mit ihr
bedienen wir schwerste Geräte und feinste Mechanismen, kön-
nen einen Vorschlaghammer genauso heben wie eine dünne
Nadel, können Dinge fest umfassen oder fast berührungslos in
Händen halten. Wir nutzen die Hand aber auch zum Tasten und
Fühlen und gebrauchen sie in der Kommunikation, zum Zeigen,
zum Zählen, für Zärtlichkeiten und – als geballte Faust – um zu
drohen. „Während der Fuß für die Statik des Menschen zustän-
dig ist, sorgt die Hand für die Dynamik“, sagt Professor Dr.
Jürgen Degreif, Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und
Orthopädie am Klinikum Esslingen, angesichts der Fülle an
funktionellen Aufgaben, die die Hand zu erledigen hat.
Möglich wird diese Vielfalt durch einen ausgeklügelten anato-
mischen Aufbau. 27 Knochen hat jede Hand, dazwischen liegen
Gelenke verschiedenster Form, sodass Bewegungen in nahezu
alle Richtungen möglich werden. Eines dieser Gelenke, das Dau-
mensattelgelenk zwischen der Handwurzel und demMittelhand-
knochen des Daumens, erlaubt es, den Daumen den anderen
Fingern gegenüberzustellen („Opposition des Daumens“) – und
ermöglicht somit das Greifen. Zahlreiche Sehnen, Bänder und
Muskeln halten dieses System zusammen, ungezählte Nerven-
endungen vor allem an den Fingerendgliedern sorgen für das
(bei manchen Menschen scheinbar weniger stark ausgeprägte)
Fingerspitzengefühl. Eine stabile Sehnenplatte macht die
Handinnenfläche robust und erlaubt den kräftigen Griff.
Ihre exponierte Stellung und der tägliche vielfältige Gebrauch
macht die Hand aber auch anfällig für Verletzungen und Erkran-
kungen. Ist eine „Reparatur“ nötig, ist das die Aufgabe der Hand-
chirurgie. Diese medizinische Disziplin entwickelte sich Mitte
des vergangenen Jahrhunderts, als Spezialgebiet von Unfallchi-
rurgie und Orthopädie. „Das Aufkommen der Mikrochirurgie
Ende der 70er Jahre war dann für die Handchirurgie ein wich-
tiger Impuls, der das Fachgebiet entscheidend voranbrachte“,
erklärt Professor Degreif. Denn Operationen an den kleinen und
feinen Strukturen der Hand erfordern neben einem speziellen
Instrumentarium wie Lupenbrillen und Operationsmikrosko­
pen auch viel mikrochirurgisches Know-how. Heutzutage sind
es vor allem Unfallchirurgen, Plastische Chirurgen und Neuro-
chirurgen, die die Zusatzbezeichnung „Handchirurgie“ erwerben.
So wie Unfallchirurg Professor Degreif, der seit 20 Jahren auch
als Handchirurg tätig ist.
Fragen und Schauen
In der Handchirurgie, die übrigens nicht auf die Hand begrenzt
ist, sondern auch Unterarm, Ellenbogen und Oberarm umfasst,
wird zwischen verletzungsbedingten und nicht-verletzungsbe-
dingten Problemen unterschieden. Zu welcher der beiden Kate-
gorien die Probleme seiner Patienten gehören, erfährt Professor
Degreif durch Fragen und Schauen: „In der Diagnostik sind die
subtile Befragung des Patienten und die subtile klinische Unter-
suchung der Hand das Wichtigste. Erst danach folgt, quasi zur
Bestätigung des Befundes, eine Röntgenaufnahme und in sel-
tenen Fällen ein Kernspintomographie.“
Zu den verletzungsbedingten Problemen zählen etwa Verren-
kungen, Sehnenverletzungen, Nervenrisse und natürlich Frak-
turen. Wobei sich die meisten Brüche nicht direkt an der Hand
ereignen, sondern knapp daneben. „Bei den Frakturen dominiert
der Bruch der Speiche nahe der Handwurzel“, sagt Professor
Degreif, „an zweiter Stelle folgt dann der Kahnbeinbruch, der oft
die Folge eines Sturzes auf die nach hinten überstreckte Hand
ist.“ Brüche der Speiche, wie auch Frakturen der Handwurzel-
und der Mittelhandknochen, werden in der Regel operativ
behandelt. Dabei kommen meist auch Drähte, Schrauben oder
kleine Platten aus Stahl oder Titan zum Einsatz, um die Knochen
zu stabilisieren. Da damit die Bruchstellen besser zusammenge-
halten werden, sind solche Verschraubungen effektiver als ein
Gipsverband. Nach dem Ausheilen können
die Metalle wieder entfernt werden,
manche allerdings, wie etwa Kahn-
beinschrauben, verbleiben dauer-
haft im Knochen.
Zwillingsverband
Abgekommen ist man dagegen von der operativen Behandlung
gebrochener Fingerknochen. „Fingerfrakturen werden in der
Regel konservativ behandelt, das heißt mittels Schienung“,
erklärt Handchirurg Degreif, „wobei wir vor allem die dynami-
sche Schienung verwenden.“ Bei dieser Methode wird der ge-
brochene Finger mit einem Zwillingsverband an den benach­
barten Finger festgebunden. „Wir nutzen den Nachbarfinger als
Schiene, was den Vorteil hat, dass der gebrochene Finger alle
Bewegungen des gesunden Fingers mitmachen muss und da-
durch gelenkig bleibt.“ Früher, als Finger noch wesentlich häu-
figer operiert wurden, waren schlecht bewegliche Finger eine
häufige Operationsfolge.
Ist ein Handknochen gebrochen, ist das Schienen oder Ver-
schrauben unter Umständen nicht die einzige notwendige Maß-
nahme. Denn nicht selten sind auch Bänder und Sehnen in Mit-
leidenschaft gezogen. „Gerade bei Brüchen der Handwurzel ist
regelmäßig auch die Bandstabilität gestört“, weiß Professor
„Während der Fuß für die Statik
des Menschen zuständig ist,
sorgt die Hand für die Dynamik.“
Professor Dr. Jürgen Degreif
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