Table of Contents Table of Contents
Previous Page  25 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 25 / 52 Next Page
Page Background

2 2017

Esslinger Gesundheitsmagazin 25

Der Siegeszug des

„Wurstgifts“

Vor drei Jahren eröffnete die Neurologische Abteilung

des Klinikums Esslingen eine Botulinumtoxinambulanz.

Seitdem konnte mehreren hundert Menschen mit kom-

plexen neurologischen Erkrankungen geholfen werden.

36 Jahre ist es her, dass das Nervengift

Botulinumtoxin fester Bestandteil moder-

ner Medizin ist. 1815 entdeckte der

schwäbische Arzt und Dichter Justinus

Kerner das Toxin. Einst als „Wurstgift“

bezeichnet, kam es in falsch gelagerten

Lebensmitteln vor, eine Vergiftung war

nicht selten tödlich. Schon kurz nach Ent-

deckung des Toxins diskutierte Kerner

einen möglichen medizinischen Nutzen

bei neuronalen Erkrankungen. Doch bis

zum ersten medizinischen Einsatz sollten

noch mehr als 100 Jahre vergehen.

Das therapeutische Botulinumtoxin von

heute hat mit dem „Wurstgift“ von einst

nur noch wenig gemein. Nicht nur bei

ästhetischen Eingriffen, wie beispiels-

weise der Faltenreduktion, findet der

Wirkstoff Anwendung, sondern inzwi-

schen auch bei komplexen neurologischen

Erkrankungen. Oberärztin Dr. Annette

Niessen ist darauf spezialisiert. Sie leitet

die Botulinumtoxinambulanz am Klinikum

Esslingen und weiß, wie das starke Ner-

vengift medizinisch sachgerecht einge-

setzt wird.

Vor allem bei fokalen Dystonien kann das

Mittel kleine Wunder bewirken. „Unter

Dystonien verstehen Mediziner spezielle

Bewegungsstörungen wie zum Beispiel

den „Schiefhals“ oder den Lidkrampf.

Dabei kommt es zu einer Verkrampfung

bestimmter Körperregionen und damit

verbunden, zu unwillkürlichen Muskel-

kontraktionen“, erklärt sie. Ausgelöst wer-

den die Bewegungsstörungen durch Fehl-

funktionen der im Gehirn sitzenden

Basalganglien. Sie sind dafür verantwort-

lich, dass die Bewegungsabläufe im Kör-

per reibungslos funktionieren.

Dr. Niessen erklärt: „Ich injiziere das

Medikament direkt in den betroffenen

Muskel. Von dort aus wandert es zu der

Kontaktstelle zwischen Nerv und Muskel

und hemmt die Freisetzung des Neuro-

transmitters Acetylcholin. Der betroffene

Muskel erschlafft.“ Die Erfolge sind

beachtlich. 80 bis 90 Prozent der Patien-

ten mit fokalen Dystonien können sich

nach einer Behandlung über eine Besse-

rung ihrer gesundheitlichen Situation

freuen.

Ein Stück mehr Lebensqualität

Nach drei Tagen beginnt das Medikament

zu wirken. Patienten die unter Spastiken

leiden, rät die erfahrene Neurologin

zusätzlich zu Physiotherapie, denn so ver-

teilt sich das Medikament viel schneller

und besser in dem jeweiligen Muskel.

Doch eines, betont Dr. Niessen, muss allen

Botulinumtoxinpatienten bewusst sein:

„Jede Behandlung ist reversibel.“

Seit drei Jahre gibt es die Ambulanz

inzwischen. Pro Quartal bekommen zirka

200 Patienten Hilfe bei Dr. Niessen, alle

drei Monate müssen die Therapien auf-

gefrischt werden. „Dass wir in Esslingen

das Angebot einer Botulinumtoxinambu-

lanz haben, ist für unsere Patienten

enorm hilfreich. Erkrankungen wie Dys-

tonien oder chronische Migräne haben

starke Auswirkungen auf die Lebensqua-

lität. Häufig wirken die Erkrankungen

auch stigmatisierend. Wir können den

Betroffenen helfen und ein Stück Lebens-

qualität zurückgeben.“

Der therapeutische Nutzen von Botuli-

numtoxin, den Justinus Kerner vor über

100 Jahren erstmals diskutierte, ist heute

Dr. Annette Niessens tägliches Geschäft

– es ist, wenn man so will, der Siegeszug

des Wurstgifts.

fw

Klinikum Esslingen

Klinik für Neurologie und

klinische Neurophysiologie

Dr. Annette Niessen

Fachärztin für Neurologie

Telefon 0711 3103-82557

a.niessen@klinikum-esslingen.de

Dr. Annette Niessen