Ausgabe 1 >2020
1 | 2020 Esslinger Gesundheitsmagazin 33 Professor Dr. Matthias Reinhard Ungefähr jeder sechste Patient in der Hausarztpraxis klagt über Schwindel, ältere Erwachsene und Senioren sind stärker betroffen als junge. Woran leiden diese Menschen? „Schwindel ist keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom für eine Reihe von Erkrankungen“, erklärt Professor Dr. Matthias Reinhard, Chefarzt der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie am Klinikum Esslingen. Neurologische Störungen, Ohren-Erkrankungen, Herz-Kreislauf- Leiden, Sehstörungen oder psychische Leiden können Schwindel attacken verursachen. Neben Krankheiten stören aber auch Alkohol oder bestimmte Medikamente unser Gleichgewichts gefühl. Und natürlich gibt es auch ganz harmlose Gründe für Schwindel: Wem nach einem Purzelbaum oder beim Lesen im Zug schwindlig wird, muss deswegen nicht zum Arzt. Wenn Schwin- del jedoch ohne ersichtlichen Anlass auftritt, länger anhält oder von weiteren Beschwerden begleitet wird, sollte man dies medi- zinisch abklären lassen. Die Diagnose: Detektivarbeit „Am Anfang der Diagnose steht ein ausführliches Patientenge- spräch“, sagt Professor Reinhard. Zuerst gilt es herauszufinden, ob der Patient an einem „echten“ Schwindel oder aber an Gang- unsicherheit leidet. „Von Gangunsicherheit spricht man, wenn diffuse ungerichtete Schwindelgefühle nur beim Gehen oder Ste- hen auftreten. In diesem Fall liegt oft eine Störung der Stand- und Gangregulation vor – Gründe hierfür sind oft vielfältig und treten oft auch in Kombination auf. Beispielsweise kann eine Störung der Nervenleitung von den Beinen durch Polyneuropathie vorliegen, chronische Mikrodurchblutungsstörungen des Gehirns und zusätz- lich orthopädische Probleme.“ Treten die Schwindelgefühle auch im Liegen oder Sitzen auf, fragt der Neurologe weiter: Wie erlebt der Patient eine Attacke: unge- richtet, als schwummriges, benommenes Gefühl oder richtungs- gebunden, also als Drehen, Schwanken, Liftgefühl oder Zug zur Seite? „Hat der Schwindel eine Richtung, liegt eine Störung des Gleichgewichtsystems vor“, sagt Professor Reinhard. Gleichgewicht ist Teamarbeit Wie funktioniert eigentlich unser Gleichgewichtssystem? Damit wir uns im Raum orientieren und Balance halten können, arbeiten mehrere Akteure im Körper zusammen. Eine zentrale Rolle nimmt das Gleichgewichtsorgan, auch Vestibularorgan genannt, ein. Dr. Wolfgang Westenberger, niedergelassener Facharzt der Esslinger HNO-Praxis Dres. Westenberger, Beck und Göz, erklärt: „Das Vestibularorgan sitzt rechts und links im Innenohr und sendet ständig Informationen über Lage und Bewegung des Kopfes an unser Gehirn.“ Ergänzt werden diese Informationen von Status- meldungen weiterer Sinnesorgane: von den Augen sowie von den Drucksensoren der Nackenmuskulatur und der Halswirbelsäule. Im Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm laufen alle Meldungen zusammen und werden miteinander „verrechnet“. Schwindelgefühle entstehen dabei, wenn das Gehirn die ankommenden Informatio- nen nicht richtig verarbeiten kann oder wenn die Informationen aus den verschiedenen Quellen widersprüchlich erscheinen. Lagerungsschwindel Letzteres ist zum Beispiel beim sogenannten gutartigen (benignen) Lagerungsschwindel der Fall – einer der häufigsten Schwindeler- krankungen. Sie entsteht, wenn das Gleichgewichtsorgan im Innen- ohr „Fake News“ an das Gehirn meldet. Doch wie kommt es zu diesen Falschmeldungen? Das Gleichgewichtsorgan hat drei mit Flüssigkeit gefüllte Bogen- gänge. An den Wänden der Gänge befinden sich hochsensible Sinneshaare. Bewegt sich der Kopf, bewegt sich auch die Flüs- sigkeit und reizt so die Sinneshaare. Diese geben den Reiz als Information an das Gleichgewichtszentrum im Gehirn weiter. Infolge unseres natürlichen Alterungsprozesses bilden sich jedoch im Vorhof der Bogengänge winzige Kalzitsteinchen. Lösen sich die Steinchen und gelangen in die Bogengänge, bringen sie mit ihren Bewegungen die Sinneshaare durcheinander – die Infor- mationen, die an das Gehirn geliefert werden, stimmen nicht mehr mit der Realität überein. Um zu prüfen, ob ein Lagerungsschwindel vorliegt, führt der Arzt ein „Provokationsmanöver“ durch und dreht den Patienten schnell in die Seitenlage, denn: „Der Drehschwindel, der durch die falschen Signale ausgelöst wird, tritt nur bei bestimmten Kopfbewegungen auf. Üblicherweise hält eine solche Attacke circa 30 Sekunden an“, sagt Professor Reinhard und fügt hinzu: „Lagerungsschwindel ist eine harmlose Erkrankung, aber für die Patienten extrem unange- nehm. Die Schwindelattacken können sehr stark ausfallen und mit Übelkeit und Erbrechen verbunden sein.“ Oft verschwindet der Lagerungsschwindel nach einigen Wochen oder Monaten von alleine. Ein „Befreiungsmanöver“ kann jedoch helfen, den Patienten schneller von seinen Beschwerden zu erlö- sen. Der Betroffene nimmt dazu wiederholt eine bestimmte Körperhaltung ein oder dreht sich auf eine bestimmte Weise. So werden im Idealfall die Ohrsteinchen wieder aus den Bogen- gängen herausgespült. >>> „Schwindel ist keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom für eine Reihe von Erkrankungen.”
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